O Die Welt ist Bild

Philosophie und Anthroposophie


Schon allein dieser Titel ist hier natürlich provozierend. Irgendeine Behauptung, irgendeine Mutmaßung. -
Irgendwelche Behauptungen und Mutmaßungen sind natürlich nichts wert für eine wissenschaftliche Forschung. Für eine solche sind natürlich eindeutige Vorgehensweisen geboten. Es hatte daher eine gute Berechtigung, für die Grundlegung des wissenschaftlichen Denkens nur die eindimensionale Methode des mathematisch-logischen Schließens gelten zu lassen.
Hierfür wäre ein Vergleichsbild die Perlenkette: von einer Perle geht es nur durch eindeutig bestimmte Rechenregeln zur nächsten Perle.
Immanuel Kant hat für auf solche Weise gefundenen Urteile den Ausdruck a priori (im Sinne von: von vornherein klar) verwendet.[1] Nur diese hat er für die wissenschaftliche Erkenntnis gelten gelassen.
Urteile, welche gewissermaßen aus mehreren Perlensträngen zusammengesetzt werden, nannte er a posteriori. Diesen sprach er allen Erkenntniswert ab. Die komplexeren Verhältnisse des Lebens, insbesondere der menschlichen Existenz lassen sich jedoch nicht nur auf eine Eindimensionalität zurückführen, sondern sind durch ihre Eigenart von vornherein vielschichtiger.
Die nächste Stufe wäre hier, zur zweiten Dimension überzugehen: zur Fläche, bzw. zum Bild: es wird für die zu untersuchenden Verhältnisse ein Bild geschaffen. Dieses Bildschaffen hat nun sofort mehrere Aspekte: viele Perlenstränge können nun zusammengetragen werden zu einem Bild. Der sinnigste Vergleich wäre hier das Puzzle, wie es im Umgangsprachlichen ja auch verwendet wird: ein Puzzlestück zum anderen hinzu finden. Zuerst wirkt diese Methode sehr willkürlich und unscharf. Sind aber die nötigen Stücke zusammengefunden in ihrer gegenseitigen differenzierten Abhängigkeit, so schaffen sie ein ebenso eindeutiges Urteil, wie die Perlenkette, wobei das Rechenregelwerk der letzteren Methode ersetzt wird, durch die sich gegenseitig tragenden Beziehungen.
Diese Methode ist jedoch sehr aufwändig, wie man sich leicht denken kann. Es waren Goethe und Schiller, welche sie für die moderne Zeit als erste entwickelten, Goethe in seinen naturwissenschaftlichen, Friedrich Schiller in seinen historischen Arbeiten. Leider haben diese Bemühungen für die Allgemeinbildung keine Früchte getragen.
Allein Rudolf  Steiner hat diese Ansätze in der erkenntnistheoretischen Grundlegung seiner Geisteswissenschaft, bzw. Anthroposophie fortgeführt und in einem reichen Anwendungsfeld auch praktisch wirksam gemacht hat, ohne dass auch dieses von der Welt genügend zur Kenntnis genommen worden wäre.
Diese Erkenntnismethode erschließt aber nun in vielerlei Hinsicht ganz neue Welten. Das Wesentlichste ist hierbei die Erkenntnis, dass die Welt, so wie sie dem Menschen über seine Wahrnehmungsorgane zugänglich wird, selbst einen „Bildcharakter“ hat. Hierbei bekommt man einen neuen Zugang zu den alten Einsichten, dass es in diesem Bildcharakter sogar mehrere Bedeutungsebenen gibt.
Zugleich erkennt man, dass es Einsichten in den Weltzusammenhang schon früher gegeben hat. Das allerdings macht es für den modernen Menschen sehr schwer, die neue wissenschaftliche Methode richtig erkennen und würdigen zu können, da sofort der Eindruck des schon Dagewesenen erscheint und der Vorwurf des Synkretismus naheliegt, wenn auch nur für die erste oberflächliche Betrachtung.
Doch mit Oberflächlichkeit wird man den modernen Erkenntnisbedürfnissen in keinem Falle gerecht werden können. Die Tragik des alten, eindimensionalen Vorgehens ist, dass einerseits volle Berechtigung der Schlussweise vorhanden ist, dass aber die eigenen Regeln gar nicht eingehalten werden. Wenn sich die übliche naturwissenschaftliche Methode streng an ihre Regeln halten würde, gäbe es keine Widersprüche zur erweiternden geisteswissenschaftlichen Erkenntnisart.
Diese hätte einen hinzufügenden, erweiternden Charakter. Aber da der Mensch eben ein naturgegebenes Bedürfnis zum Bild hat, konnten die meisten naturwissenschaftlichen Forscher selbst nicht ohne Bild auskommen, angefangen Kant selber. Ohne dass es ihnen bewusst wurde, schlich sich in ihr Denken ein Bild der Welt ein, welches zum Motiv des naturwissenschaftlichen Forschens geworden ist und welches hier oft als das materialistische Weltbild zitiert wird.
Die Crux dabei ist, dass dieses Bild unbewußt beziehungsweise unreflektiert  in das Denken der neuzeitlichen Forscher gekommen ist und somit auch kein direkter Widerspruch belegt werden kann. Es ist ja kein wissenschaftliches Ergebnis, sondern nur eine „Einbildung“.
Dies genau zu analysieren war die Hauptaufgabe der "Philosophie der Freiheit" Rudolf Steiners.



Fußnoten
[1] Natürlich ist das hier sehr vereinfacht, streng genommen müsste man natürlich von synthetischen Urteilen a priori oder a posteriori sprechen. Kants Grundfrage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich, werden dann nur für die Mathematik oder Physik positiv beantwortet. A posteriori sind Urteile immer dann, wenn es Erfahrungsurteile sind. Vgl. den Wikipedia-Artikel über die Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant:
http://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_der_reinen_Vernunft